Allgemein,  Streckenflug

Wie wir den Rudi zurückgeholt haben. (Segelfliegerabenteuer anno 1968)

Dieser sehr lesenswerte Reisebericht über eine Rückholaktion aus Frankreich (um die 50 Jahre her…) wurde uns Anfang 2019 von Walter Kalmbach zugespielt. Während eines Generalstreiks bei unseren westlichen Nachbarn ging es damals mit Rückenwind vom Wächtersberg bis in die Gegend um Le Mans und Blois (zwischen 600km und 700km vom Wächtersberg!). Ob die 3 köpfige Rückholmannschaft den Piloten zügig einsammeln konnte, müsst ihr selbst herausfinden…

An dieser Stelle vielen Dank an Alfred Hartmann für die Umwandlung des als Bild vorliegenden Scans, des ursprünglich mit Schreibmaschine geschriebenen Textes,  in Textform.

Kurz noch ein paar Worte zu Walter Kalmbach: Walter war seit 1951 Mitglied in der Flusgsportvereinigung Wächtersberg. Er hat über die vielen Jahre viele Funktionen im Verein wahrgenommen, so war er Vereinsvorsitzender, Kassenwart, Technischer Leiter, Flugbetriebsleiter, Ausbildungsleiter und Fluglehrer. Letztes Jahr (Sept.2019) verstarb er im Alter von 96 Jahren.

So haben wir den Rudi zurückgeholt.
(Walter Kalmbach)

Man schrieb den Monat Mai des Jahres 1968. Es ging auf Mitternacht zu, als mich der Hausmeister des alten Empfangsgebäudes ans Telefon holte. “Sie sind verbunden mit dem Aerodrome Wächtersberg! Sprechen Sie!” – forderte mich eine freundliche Frauenstimme in französischer Sprache auf. Nicht nur der schmeichelhafte Ausdruck “Aerodrome Wächtersberg” für unseren steinigen Buckel mit der alten Arbeitsdienstbaracke brachte mich etwas aus der Fassung, sondern die Tatsache, überhaupt eine Verbindung bekommen zu haben. Wir saßen hier in Straßburg fest, denn in ganz Frankreich herrschte seit Tagen der Generalstreik. Das bedeutete, daß das ganze öffentliche Leben lahm gelegt war. Keine Bahn, kein Bus fuhr, kein Flugzeug startete und vor allem, kein Telefon funktionierte. An den Tankstellen hingen Schilder mit der Aufschrift: “Fermê”.

Wie kamen wir in diese vertrackte Lage? – Am Vormittag war Rudi Pape mit dem “Grünen“, unserem besten Segler, dem “Zugvogel II“ gestartet. Er wollte die günstige Wetterlage zu einem längeren Streckenflug nutzen. Ihn reizten die vor einiger Zeit durchgeführten, Aufsehen erregten Flüge dreier Segelflieger von den Flugplätzen an der Alb bis in die Nähe des Atlantiks. Heute blies wieder ein steter Rückenwind, verbunden mit guter, nicht überkochender labiler Luftschichtung, so daß gute Voraussetzungen für einen freien Streckenflug nach Westen vorlagen.

Nach dem mühsamen Wiederanfang der Fliegerei auf dem Wächtersberg war der Ausbildungsstand der Flieger so weit angestiegen, daß der Hangflug fliegerisch ausgereizt war. Nach den 5-Stundenflügen gab es eigentlich nur noch die Möglichkeit, die Flugzeit immer mehr zu steigern, aber im ewigen Hangpolieren sah man keinen Sinn. Als Herbert Goller den ersten 5-Stundenflug auf dem Wächtersberg als reinen Thermikflug durchführte, bekam der Streckenflug neuen Schwung. Rudi war eine der treibenden Kräfte in dieser Richtung. Er sah aber auch die neuen Probleme. Besonders die Schwierigkeit, für längere Strecken Rückholer zu finden, sah er als große Hemmung für die Piloten an, sich aus der Nestwärme des Platzes zu wagen.

Nachdem heute morgen die Halle ausgeräumt, Flugzeuge und Start aufgebaut waren, drückte mir Rudi seine Autoschlüssel in die Hand und sagte nur: “Ich probiers!“. Trotz der geringen Schlepphöhe von knapp 200 m fand er rasch Anschluß an die Thermik und kam bald in Richtung Westen außer Sicht. Sein Jahreswagen, ein Mercedes 250 stand samt Anhänger schon wohlvorbereitet an der Halle. Flächenbezüge waren verstaut, Tank und drei Kanister voll, alles Nötige vorhanden, alles Unnötige entfernt, es fehlte nur noch die Rückholmannschaft. Sie sollte, durch frühere Erfahrungen gewitzt, so klein als möglich sein. Deshalb nahm ich nur meinen Sohn Wolfgang und “Antek“ mit. Beide waren vertraut mit Ab- und Aufbau von Flugzeugen sowie mit der Verladung .Wolfgang fuhr, ich franzte und Antek war für die Logistik zuständig. Lange Zeit kannte ich nicht einmal seinen richtigen Namen. Er war kein aktives Mitglied des Vereins, tauchte aber immer dann auf, wenn es etwas zu werkeln gab und faßte mit an. Sein Informationsstand umfasste alles Geschehen im Verein und er konnte schweigen.

Mit der Abfahrt wollten wir nicht warten, bis die Landemeldung auf dem Wächtersberg eingetroffen war. Wir hofften, Zeit zu gewinnen, wenn wir schon einmal ein Stück in die vom Wetter vorgegebene Richtung vorfuhren, um dann schneller am Landeort zu sein. Im jetzigen Fall hieß dies, zunächst einmal über den Schwarzwald ins Rheintal hinunterzufahren. Von dort aus wollten wir zurückrufen. Am frühen Nachmittag fuhren wir los und in ruhiger Fahrt, denn wir hatten ja Zeit, gings über den Kniebis hinunter ins Rheintal. Dort lud uns nach etwa zweieinhalb Stunden ein Wirtshaus an der Straße zur Rast und zum Rückruf nach Wildberg ein. Zwar herrschte immer noch schwache Thermik, aber vielleicht mußte Rudi schon irgendwo runter.

Wie erwartet brachte der Anruf kein Ergebnis und damit stieg die Wahrscheinlichkeit, daß der Landeort jenseits der Grenze in Frankreich liegen könnte. Nun hieß es eben warten. Aber das wollte ich nicht hier, sondern an der Grenze in Kehl. Dort können wir sicher Näheres über die Lage im Nachbarland erfahren. Am Bahnhof in Kehl stellten wir unser Gefährt ab. In der Nähe entdeckten wir ein Informationsbüro des ADAC, das noch geöffnet hatte. Was wir aber dort erfuhren, war alles andere als ermutigend. Seit zwei Tagen bestünden keine Verbindungen mit drüben. Das öffentliche Leben sei lahmgelegt, denn alle Einrichtungen arbeiteten nicht mehr. Die Telefonleitungen seien tot. Man rechne außerdem mit Demonstrationen und Unruhen, die Gendarmerie sei im Alarmzustand.

Nun war guter Rat teuer. Sollten wir hier bleiben und abwarten, bis sich die Lage bessern würde oder das ganze Unternehmen abblasen und auf den Wächtersberg zurückkehren? Inzwischen ist mir klar geworden, daß die gute Wetterlage Rudi viel weiter nach Westen getragen hatte als wir angenommen hatten. Wenn jemand überhaupt etwas über seinen Landeort wisse, dann könne das nur die französische Gendarmerie sein. An der Grenze, auf der Brücke, sowohl auf deutscher Seite als auch auf der französischen war kein Mensch zu sehen, keine Polizei, kein Zoll. Erst weiter in der Innenstadt von Straßburg fanden wir eine Gendarmeriestation. Dort herrschte große Betriebsamkeit. Der Chef, zu dem mich ein mit MP bewaffneter Posten geführt hatte nahm sich wenig Zeit für unser Anliegen. Ein Segelflugzeug sei heute in den Departements am Rhein nicht gelandet. Wir sollten uns aber schleunigst wieder über die Grenze nach Kehl zurückziehen, denn hier in Straßburg könnte unser Transportwagen leicht als Baumaterial für Barrikaden benutzt werden! Dazu hatten wir aber durchaus keine Lust und fuhren ziemlich bedeppert zurück.

Am Bahnhof angekommen, tauchte ein weiterer Rückholer auf. Eine Mannschaft aus Esslingen hatte ebenfalls noch keine Ahnung, wo ihr Pilot gelandet sein konnte. Nachdem sie unsere bisherigen Erfahrungen vernommen hatten, beschlossen sie, noch einige Zeit hier abzuwarten. Mir behagte dies aber überhaupt nicht .Wenn schon warten, dann lieber auf einem Flugplatz. Vielleicht kann die dortige Flugleitung uns einige Klarheit verschaffen.

Auf früheren Fahrten ins Elsaß schaute ich immer, wenn ich noch Zeit hatte, beim Straßburger Flughafen vorbei, schon der dort stationierten Mirage wegen. Nach kurzer Besprechung schlossen sich die Esslinger an und dann gings zum dritten Mal über die Brücke, diesmal aber gleich ab nach Süden Richtung Entzheim.

Es dämmerte schon stark, als wir in einen größeren Innenhof einfuhren. Wir suchten nach irgendeiner Dienststelle, die uns Auskunft geben könnte, aber alles war leer. Wir stiegen aus, schauten uns um und ehe wir etwas entdecken konnten, kam von oben eine Stimme: “Was wollt denn ihr hier?” Auf einem kleinen Balkon im oberen Stockwerk stand ein Mann. Er mußte uns schon von Anfang an beobachtet haben. Ehe ich unser Anliegen vorbringen konnte, meinte er: “Wartet, ich komme gleich runter!“ Er stellte sich dann vor als Leiter der Nachtschicht. Tagsüber sei die Armee de l’air für den Flugbetrieb zuständig. Anscheinend hatte er nicht allzu viel zu tun, denn er nahm uns in seinen Dienstbereich hoch. Dort führte er uns in einen von fahlem Licht erhellten Raum voller Bildschirme, der mich an eine Radarleitstelle erinnerte. An einer der Türen stand auch so etwas wie “Eintritt verboten“.

In einem lockeren Gespräch suchte er sich ein Bild von uns zu machen. Woher wir kämen, von welchen Flugplätzen die Segler gestartet seien, um welche Flugzeugtypen es sich handle, Namen der Piloten und weitere technische Einzelheiten. Zwischendurch erfuhren wir, daß er im Krieg als Elsäßer zur Deutschen Luftwaffe eingezogen und u. a. auch in Esslingen stationiert war.

Im Augenblick sei unsere Lage sehr trist, denn der Generalstreik hätte alle öffentlichen Einrichtungen weitgehend lahm gelegt. Er wolle aber helfen, doch das brauche Zeit und er könne nichts versprechen. Die Zeit schien uns weniger wichtig, denn wir waren ja nun schon eine weile unterwegs, wenn wir nur die Landeorte unserer Piloten erfahren könnten. Drüben, im alten Gebäude, stünde der Wartesaal leer, da könnten wir die Nacht zubringen. Er werde gleich dem Hausmeister Bescheid sagen.

Nun hatten wir wenigstens ein Dach über dem Kopf und begannen, uns für die Nacht einzurichten. Der große Saal erinnerte an alte Bahnhöfe. An den Wänden zogen sich lange Bänke hin aus dickem, massiven Holz in eiserner Fassung, eine stabile Unterlage. Was an Polster oder Decken im Auto oder Hänger brauchbar war, holten wir heraus, um die Härte unseres Nachtlagers zu mildern. Ehe wir uns aber richtig niedergelassen hatten, rief der Flugleiter die Esslinger zu sich. Er hatte in der Zwischenzeit den Landeort ihres Piloten gefunden. Der lag südlich der Vogesen in der Burgundischen Pforte. Ebenso erfreut wie eilig packten sie ihre Siebensachen wieder ein und zogen ab nach Süden. Wir blieben mit etwas neidischen Gefühlen zurück, aber unsere Hoffnung bekam wieder neuen Auftrieb, über Rudi bald Ähnliches zu erfahren.

Bei seinem abendlichen Rundgang setzte sich der Hausmeister zu uns. Im Gespräch stellte sich heraus, daß auch er einst bei der Luftwaffe war und in einer Staffel meines Geschwaders als Flugzeugwart der He 177 arbeitete. Mit dieser Erkenntnis änderte sich die ganze Atmosphäre. Der ehemalige Wart stand auf, entfernte sich und kehrte mit einem Arm voll Kronenbourg zurück. Eine ganze Weile saßen wir noch in guter Runde zusammen, bevor sich einer nach dem andern auf sein hartes Lager zurückzog.

Lange dauerte die Nachtruhe nicht, denn schon nach kurzer Zeit holte mich der Hausmeister zu dem anfangs erwähnten Telefongespräch mit dem “Aerodrome Wächtersberg”. Dort lag keine Nachricht über Rudi vor und ich konnte auch nichts mitteilen. Aber eine Erkenntnis lag plötzlich glasklar vor mir: Auch wenn eine Lage völlig hoffnungslos erscheint, sollte man nicht aufgeben. Vor allem darf man sich nicht beeindrucken lassen von der allgemein herrschenden Meinung mit der unvermeidlichen Gerüchteküche. Alle sagten uns: Das Telefon ist tot – und trotzdem konnte ich telefonieren!

Unsere harten Liegen sorgten dafür, daß wir den Morgen nicht verschliefen. Als wir uns aufrappelten, kam der Flugleiter bei uns vorbei. Sein Dienst war beendet, das Militär hatte wieder die Tagesarbeit übernommen. Er lud uns noch zu einem Café noir im neuen Flughafenrestaurant ein, das zu dieser frühen Morgenstunde schon geöffnet hatte. Dort berichtete er, der Capitain sei informiert, die Such laufe weiter und er werde uns sofort Bescheid geben, sobald er eine Nachricht habe. Dies alles könne aber noch eine Weile dauern, weil alle Verbindungen über Paris liefen. Im Laufe der Unterhaltung wurde mir immer klarer, daß er auf mir unbekannte Weise den Fahndungsapparat der französischen Polizei angezapft hatte und Rudi auf diesem Weg gesucht wurde. Bei der Verabschiedung lehnte er es in gespielter Entrüstung ab, daß ich die kleine Zeche bezahlte, ich hätte ja doch nur Falschgeld bei mir!

Lange mußten wir nun nicht mehr warten, denn bald brachte mich der Hausmeister in die nicht mehr so stille Flugleitung. Der Capitain teilte mir militärisch knapp mit, der gesuchte Planeur sei in der Nähe der Stadt Blois an der Straße nach Le Mans gelandet. Dabei gab er mir einen Zettel mit dem Namen der nächsten Ortschaft. Im Hinblick auf den Generalstreik gab er mir die Empfehlung, wir sollten uns auf der Strecke immer wieder bei der Gendarmerie melden, die würde uns über die Lage in ihrem Bereich informieren. Und dann wünschte er uns eine gute Fahrt.

Die Frage für uns war nun, welche Route schlagen wir ein? Nach einem Blick auf die Straßenkarte schien uns die Strecke südlich der Vogesen und dann in das Gebiet um die Loire am günstigsten. Zum vierten Mal in kurzer Zeit überquerten wir die Brücke nach Kehl, diesmal zur Autobahn Richtung Freiburg. An der letzten Tankstelle vor dem Grenzübergang wurden der Tank und ein zusätzlicher Kanister gefüllt, denn mit diesem Sprit mußten wir notfalls die ganze Strecke hin und zurück ohne Zwischentanken fahren können. Und dann gings ohne Kontrolle hinüber ins Land des Generalstreiks.

Strahlender Sonnenschein begleitete die flotte Fahrt. Je weiter wir ins Land kamen, desto mehr hob sich auch unsere Stimmung. Der Druck der Ungewißheit in den vergangenen Stunden verschwand, denn wir hatten nun ein festes Ziel. Nach jeweils zwei Stunden Fahrt verordnete Antek strikt eine Viertelstunde Pause, um die Beine zu bewegen. Kurz vor einer dieser Pausen hatte ich von einer Rückholfahrt erzählt, bei der ich alle Fenster herunterkurbeln mußte, um frische Luft zu bekommen. Die Füße des damaligen Piloten hatten anscheinend in den vergangenen Tagen kein Wasser gesehen und verbreiteten einen Duft, gegen den ein reifer Münster-Käse nicht ankam. An dem abgelegenen Parkplatz floß ein kleiner, munterer Bach vorbei und der regte Antek an, auch noch ein Fußbad anzuordnen, denn wir wollten ja Rudis gepflegtem Wagen keine ähnliche Tortur zumuten.

Auf dem bisherigen Weg kamen wir immer wieder an Tankstellen vorbei, die alle geschlossen waren. Sie wirkten wie tot, ohne Menschen, ohne Fahrzeuge. Als sich unsere Tankanzeige immer mehr der Null näherte, meinten wir, es könne wohl nicht schaden, einmal doch zu versuchen, Sprit zu bekommen. An der nächsten Tankstelle vor einem kleinen Dorf fuhren wir ein. Während wir noch das Schild “Grêve Genêrale“ und “Fermê” betrachteten, kamen erst ein paar Kinder und dann zwei Erwachsene aus einem anschließenden Gebäude. „Wo kommt denn ihr her?” war die uns schon bekannte Frage. Wir konnten ihre Neugier befriedigen und da wir auch sonst einen ordentlichen Eindruck machten, war auch unser Anliegen schnell erfüllt. “Natürlich könnt ihr Benzin bekommen!” Sie nahmen dann auch ganz gern unser großzügig berechnetes ‘Falschgeld’ an und wir konnten mit vollem Tank weiterfahren.

Inzwischen befanden wir uns an der Loire und da stellte sich die Frage: wie ist die Streiklage in der nächsten großen Stadt, in Orleans? Kommen wir gut durch oder ist auch hier unser Anhänger potentielles Baumaterial für Barrikaden? In einer kleinen Gendarmeriestation am Wege erkundigten wir uns. In Orleans sei alles ruhig, wir könnten ohne weiteres mit unserem Hänger die Stadt durchqueren. So beruhigte er uns und fragte zum Schluß nach dem Namen unseres Zielortes. Ich gab ihm den Zettel, den wir in Straßburg erhalten hatten. Er las ihn und holte dann aus einem Regal ein dickes Buch. Darin seien alle Städte, Dörfer und Wohnplätze Frankreichs verzeichnet. Er blätterte und blätterte, schüttelte den Kopf und blätterte weiter. “Diesen Ort gibt es in ganz Frankreich nicht!” Und damit gab er mir den Zettel zurück. Mich traf zwar nicht der Schlag, aber unsere Gesichter sahen vorher sicher intelligenter aus. Er tröstete uns und meinte: “Fahren Sie ruhig nach Blois, die Kollegen dort werden ihnen sicher den genauen Landeplatz angeben können!”

Mit dumpfem Gefühl und sichtlich niedergeschlagen setzten wir unsere Reise fort. Sollten wir die ganze Zeit schon zu einem Ziel gefahren sein, das es überhaupt nicht gibt? In Blois schien uns die Gendarmerie schon erwartet zu haben. “Seid ihr jetzt da?” wurden wir empfangen. Die Sache mit dem Zettel klärte sich schnell. Der Name des Landeortes wurde zwar ähnlich ausgesprochen, aber ganz anders geschrieben, ein typischer Übermittlungsfehler. Der Weg zum Landeplatz wurde uns wortreich beschrieben: Erst die Nationalstraße nach Le Mans, dann an einer großen Kreuzung abzweigen auf eine kleinere Straße. Die würden wir schon finden, es sei alles gut ausgeschildert.

Als wir aufbrachen dämmerte es schon und die Straßenlaternen wurden eingeschaltet. Beflügelt von der Hoffnung, Rudi nun bald zu finden, beschleunigten wir unser Marschtempo. Die Straße erlaubte dies, denn der Verkehr schien eingeschlafen. In den Dörfern, die wir passierten, schienen die Gehwege hochgeklappt zu sein. Im Lichte der Scheinwerfer tauchten nur kahle Hauswände auf, die Fensterläden waren zugeklappt. Kein Mensch, kein Tier zeigte sich. Unsere drei Augenpaare suchten hellwach nach jedem kleinen Hinweis, nach jedem Schild, bis wir endlich die besagte Kreuzung erreichten. Dort stiegen wir aus und prüften alle Wegweiser. Die angegebene Abzweigung war schnell gefunden und wir setzten auf der kleineren Landstraße die Fahrt fort. Je weiter wir aber vorankamen, desto mehr verwandelte sie sich in einen besseren Feldweg.

So langsam wuchsen die Zweifel, ob wir uns überhaupt auf dem richtigen Weg befanden. Inzwischen war es stockdunkel geworden und ein leichter Nieselregen wehte an die Windschutzscheibe. Rings um uns nichts als schwarze Nacht, kein Gebäude, kein Baum oder Gebüsch, kein Lichtschein. Wir hielten schließlich an, schauten uns um und überlegten. Sollen wir einfach stehen bleiben und auf den Morgen warten oder weiterfahren? Der Weg mußte ja zu irgendeinem Ort führen.

Während wir überlegten, flackerte weit vor uns ein Licht auf. Es bewegte sich auf unseren Weg zu, bog dann ein und näherte sich. Ein Auto mitten in der Nacht, auf freiem Feld! Bald hielt ein kleiner R4 neben uns. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter und ich konnte zwei Personen erkennen, einen Mann und eine Frau. Er trug eine Soutane und sie hielt einen Korb auf den Knien: Ein Curê und seine Haushälterin. Was wir denn um diese Zeit hier suchen würden, fragte er und ich erklärte ihm kurz unsere Lage. Ja, das mit dem Flieger stimme, gestern sei einer bei einer der Farmen gelandet. Wir mußten nur ein Stück weiterfahren, dann…. “Ach was”, meinte er, “ich fahre voraus, und Sie folgen mir!“

Schon nach wenigen hundert Metern tauchten die Umrisse von Gebäuden auf. Ein kleines Fenster war noch hell erleuchtet. Wir fuhren in den Hof, der Curê klopfte an eine Tür, Gesprächsfetzen ließen sich vernehmen und dann wurden wir aufgefordert, doch einzutreten. In dem hellen Raum stand ein mehrere 100 l fassendes Kühlaggregat, bis zum Rand gefüllt mit Milch. Daraus bekamen wir erst einmal einen Becher dieses kühlen Getränks angeboten .Seit Tagen wurde wegen des Streiks keine Milch mehr abgeholt, man wisse nicht, was man mit ihr noch anfangen sollte. Der kühle Trunk zu dieser späten Stunde schmeckte zwar ausgezeichnet, aber deshalb waren wir nicht schon zwei Tage unterwegs. Ach ja, den Flieger hatten sie bis an die Heuscheuer herangezogen, aber der Pilot sei nicht mehr hier, erfuhren wir jetzt. Ein Mann sei vorbeigekommen, der habe ihn im Auto mitgenommen. Der sei bei einer Zeitung in Paris und besäße ein Haus in einem Nachbardorf. Dann folgte wieder eine Wegbeschreibung mit vielem Abbiegen links und rechts und geradeaus.

Der Curê verabschiedete sich, die Bauersleute zogen sich in ihre Wohnung zurück und wir gingen zum Heuschober. Da lag er nun, der grüne Zugvogel, den wir wieder zurückholen sollten in sein Nest. Eine kurze Untersuchung ergab keine sichtbaren Beschädigungen. Im Anbetracht der fortgeschrittenen Tages- bzw. Nachtzeit verkrochen wir uns ins Heu. Jeder schaffte sich eine Höhle und bald war von uns nichts mehr zu hören und zu sehen.

Die Morgendämmerung mit ihrer Kühle weckte uns aus einem kurzen, aber erholsamen Schlaf. Die Arbeit bei der Demontage und dem Verladen der schweren Teile des Flugzeugs brachten uns bald wieder auf Betriebstemperatur, wog doch eine Tragfläche über 75 Kilo. Noch ehe die Sonne über dem Horizont erschien, waren wir und unser Gefährt startklar in den dritten Tag unserer Reise.

Mit der Sonne im Rücken fuhren wir durch eine weite, offene Landschaft zum nächsten Dorf. In langsamer Fahrt näherten wir uns dem ersten Haus. Wir hatten es noch nicht passiert, da öffnete sich im ersten Stock einer der großen Fensterläden und eine verschlafene Gestalt blinzelte in die Sonne, richtete ruckartig den Blick auf uns und fragte verdattert: “Wo kommt denn ihr her?” Genauso verdutzt wurde uns schlagartig klar, daß wir nun am Ziel unserer Reise waren und nach dem Flugzeug nun auch den Rudi gefunden hatten.

Der Hausherr, ein Redakteur der Zeitung “France soir” lud uns noch zu einer schnell zubereiteten Tasse Kaffee mit speziellen französischen Zutaten ein. Schnell entwickelte sich eine intensive Unterhaltung über persönliche und politische Angelegenheiten. Auch Madame, noch im Negligé, gesellte sich noch zu uns, denn wir hatten den normalen Tagesrhythmus der Familie durch unseren allzu frühen Besuch etwas gestört. Rudi wurde bald immer unruhiger und Anteks Aussprache immer langsamer, so daß wir uns schließlich bedankten und verabschiedeten, nicht ohne eine Menge Ratschläge für die Rückfahrt mitzubekommen.

Diese erfolgte nun unter ganz andern Umständen, denn nun hatten wir von Anfang an ein klares Ziel und mußten uns nicht von Etappe zu Etappe vorarbeiten .Die allgemeine Stimmung war viel entspannter. Rudi saß am Steuer, wir waren nur noch Passagiere. Der Generalstreik behinderte uns nicht, im Gegenteil. Er beschleunigte die Fahrt, denn der Verkehr lief ruhiger als sonst, und wir mußten an keiner Bahnschranke warten. Das einzige Problem war der Sprit. Reicht er noch oder müssen wir doch nachtanken. Ein Vergleich der gefahrenen Kilometer mit dem bisherigen Verbrauch beruhigte uns. Bis Kehl würde es uns reichen.

So kamen wir gut voran, bis sich nach einigen Stunden unsere Mägen bemerkbar machten. In den vergangenen Tagen waren sie nicht gerade verwöhnt worden. In der Vergangenheit hatte sich bei den Rückholungen der Brauch ausgebildet, daß der zurückgeholte Pilot seinen Rückholern eine Einkehr in einem an der Strecke liegenden Gasthaus spendierte. Deshalb fanden wir es ganz gut, daß Rudi auf einen Parkplatz einbog, auf dem eine ganze Anzahl dicker Laster stand. Er gehörte zu einem der Rasthäuser, die vor allem an den Nationalstraßen Frankreichs entstanden waren, in denen die Routiers, die Fernfahrer sich erfrischen und günstig, aber trotzdem qualitativ gut speisen konnten. Wir genehmigten uns ein 3-Gänge-Menue mit einem Kronenbourger oder Rouge ordinaire. Nur Rudi als Fahrer mußte sich mit einem Eau minerale begnügen.

Die Weiterfahrt nach Straßburg verlief unspektakulär. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen aus dem Westen, als wir die Rheinbrücke überquerten. Mich überkam ein zwiefältiges Gefühl, den sonst so lebendigen Ort mit Zöllnern und Polizisten auf beiden Seiten so ganz normal zu passieren. Unser braver Diesel zog uns mühelos zum Kniebis hoch und bald danach standen wir wieder an der Stelle, von der wir vor drei Tagen weggefahren waren, auf unserem “Aerodrome Wächtersberg”.

Einige Flieger hatten noch auf uns gewartet und wir mußten ihnen eine Menge Fragen beantworten, hatte doch bis jetzt noch kein Pilot eine solche Strecke von an die 600 km zurückgelegt. Bald aber siegte der Wunsch nach einer warmen Dusche und frischer Wäsche und wir zogen ab. Antek nach Gültlingen und Wolfgang und ich nagoldabwärts.